Gründerzeit: »Dionysische« Welten

Gründerzeit: »Dionysische« Welten
Gründerzeit: »Dionysische« Welten
 
Als am Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 König Wilhelm I. von Preußen in Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen wurde, war die lang ersehnte Reichsgründung unter der Leitung Bismarcks vollzogen; zugleich begann eine neue Epoche des europäischen Wettrüstens und kolonialen Wettbewerbs, die schließlich im Ersten Weltkrieg endete. Fünf Milliarden Francs französischer Kriegsentschädigung strömten ins Deutsche Reich und förderten in der »Gründerzeit« ein stürmisches Wirtschaftswachstum sowie die schnell voranschreitende Industrialisierung. Neureiche Auftraggeber protzten allerorten mit ornamental überladenen Hausfassaden und schwülstiger Raumausstattung.
 
Die Bürgerwohnung, von schweren Vorhängen abgedunkelt, schmückte sich zwischen Kübelpalmen mit historistischen und exotischen Gegenständen. Reiseandenken gaben die Traum- und Fluchtparolen aus, Neurenaissance und Neubarock gesellten sich zu den Butzenscheiben und Ritterburgen der Neugotik. Zum Inbegriff für diesen Eklektizismus wurde der Makart-Stil. Hans Makart, der bekannteste Historienmaler und Porträtist Wiens, liebte theatralische und orientalische Dekorationen; sein Atelier inszenierte er zur »asiatischen Trödlerbude«, wie Anselm Feuerbach bissig bemerkte. Ein anderer »Malerfürst«, Franz von Lenbach, baute sich in München eine Villa im Stil der Renaissance als Atelier, das er gleichfalls zum weihevollen Ambiente ausgestaltete. Als Vorstufen für seine Bildnisse, mit denen er zu einem der meistgefeierten Porträtisten der Wilhelminischen Ära wurde, bediente sich Lenbach allerdings bereits des modernen Mediums der Fotografie. So zeigte sich das Janusgesicht dieser Jahrzehnte: hier rückwärts gewandte und exotische Sehnsüchte, dort der technische Fortschritt.
 
Auf diese Muster griffen aber nicht nur bürgerliche Ausstattungsprogramme, sondern auch die Innendekorationen der Schlösser zurück, die sich Ludwig II. von Bayern von 1868 an erbauen ließ. Neben ihrem architekturgeschichtlichen Rang besitzen diese Bauten mit ihren riesigen Freskenzyklen vor allem für die gründerzeitliche Malerei Süddeutschlands einen hohen Stellenwert. In der Nähe von Schloss Hohenschwangau, das von Ludwigs Eltern im Stil einer mittelalterlichen Burganlage weitergebaut worden war und dessen Räume zum Teil nach Entwürfen Moritz von Schwinds ausgemalt wurden, ließ Ludwig Schloss Neuschwanstein errichten. Gobelinmaler trugen hier hauptsächlich mittelalterliche Themen vor, die sich an Richard Wagners Musikdramen orientieren. Dagegen hatte Ludwigs Künstlerstab in Linderhof und in Herrenchiemsee die Welt des Absolutismus und des Barocks heraufzubeschwören. In vielen Räumen dieser Schlösser und in dazugehörenden kleineren Gebäuden kamen auch Motive des fernen Orients, Indiens und des Himalajas hinzu, die durch auswechselbare gemalte Panoramen bühnenbildartig inszeniert wurden. Modernste Technik sorgte für die Illumination, ermöglichte artifizielle Mondschein- und Regenbogeneffekte und sorgte dafür, dass sogar die künstliche Vegetation beleuchtbar war.
 
Zwei Begriffspaare bestimmten in der Gründerzeit das Geistesleben Deutschlands maßgeblich und beeinflussten auch symbolistische Künstler wie Max Klinger, »spiritualistische« Maler wie Fidus oder »Deutschrömer« wie Arnold Böcklin. Friedrich Nietzsches Formel vom »Dionysischen« und »Apollinischen«, formuliert in der Schrift »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (1872), bezeichnete unter dem Namen des griechischen Naturgottes Dionysos das animalisch-rauschhafte Wesen des Menschen, unter dem Lichtgott Apoll seine kontrollierte Seite. Nietzsches Kulturphilosophie favorisiert hierbei den an keine rationalen Zwänge gebundenen »Übermenschen«, vergleichbar den selbstherrlichen Gestalten in Jacob Burckhardts »Die Kultur der Renaissance in Italien« (1860). Der modernen Technikhörigkeit des Menschen die Kraft des Mythos und eine intuitive Symbolik engegenzuhalten, forderten auch das »Mutterrecht« Johann Jakob Bachofens und die Symboltheorie Friedrich Theodor Vischers. All dies setzte einen Kult des Irrationalen und Archetypischen frei, der sich nicht zuletzt in den musikalischen »Gesamtkunstwerken« Richard Wagners äußerte.
 
Das zweite Gegensatzpaar lautete »Kultur« und »Zivilisation«. Schon vor Oswald Spenglers Hauptwerk »Der Untergang des Abendlandes« (1918-22) enthielt es am Ende des 19. Jahrhunderts eine gegen das avantgardistische Frankreich gerichtete Spitze. »Zivilisation« wird mit modernem Fortschritt gleichgesetzt, mit Fabrikarbeit und Verstädterung. Diesen notwendigen, aber hässlichen Erscheinungen der »westlichen« Gesellschaften wurde die Vorstellung von gewachsener, tiefgründiger »Kultur« vergangener, harmonischerer Zeiten gegenübergestellt. »Kultur« sprach man nur dem Deutschen zu: Er sei naturverbunden, tiefsinnig und romantisch, der Franzose dagegen »zivilisiert«, spöttisch und oberflächlich, ein Rationalist und Städter.
 
Auch die »Deutschrömer« suchten in Italien - und nicht in der Weltmetropole Paris - nach den Quellen der »Kultur«. Anselm Feuerbach gestaltete seine Themen nach klassisch-monumentalem Ideal, dem er einen elegischen Ton verlieh, in dem romantische Sehnsuchtsmotive und das allen Deutschrömern gemeinsame Ungenügen an der Gegenwart anklingen. Böcklin hielt sich ebenfalls von impressionistischen Neuerungen fern und verwandelte romantische Nachklänge zu einem oft melancholischen Symbolismus - etwa in den ab 1880 entstandenen Variationen der »Toteninsel«. Dass Böcklin seinen eigenen Worten zufolge in Italien das »Unzivilisierte« suchte, dass in seinen Bildern oft »niedrige« Naturgottheiten - Satyrn, Nymphen oder Pan - auftauchen, belegt den Einfluss Nietzsches und den Versuch, dem Industriezeitalter mit wieder belebten Mythen zu begegnen. Hans von Marées entnahm seine Figuren, die er wie in einem zeitentrückten Relief in seine Landschaft hineinmodellierte, meist ebenfalls der Mythologie. Daneben vollzog er - etwa in den 1873 entstandenen Fresken für das Aquarium in Neapel, die paradiesische italienische Landszenen zeigen - eine das Irrationale überwindende Analyse der reinen künstlerischen Form, die der Bildhauer Adolf von Hildebrand noch vertiefte. In Kontakt mit Böcklin stand auch Max Klinger, dessen dämonische Traumwelt seiner Grafiken fast schon surrealistisch wirkt.
 
Geringer war Böcklins Einfluss auf Hans Thoma, der in Paris die Werke Courbets und der Schule von Barbizon kennen gelernt hatte und schlichte Wirklichkeitsnähe suchte; 1870 ging Thoma nach München, wo Wilhelm Leibl, Wilhelm Trübner oder Carl Schuch eine naturalistische Malerei pflegten. In Berlin wandte sich Adolph von Menzel, dessen Realismus jeden gründerzeitlichen Exzess und Kitsch vermied, seit den 1870-er Jahren auch Darstellungen von Arbeitern zu. Nicht der Schwulst, sondern das Irrationale und Idealistische blieb - über den Jugendstil bis hin zur klassischen Modernen - deutsches Erbe.
 
Dr. Norbert Wolf
 
 
Hamann, Richard und Hermand, Jost: Gründerzeit. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1977.
 Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 31991.
 Mignot, Claude: Architektur des 19. Jahrhunderts. Aus dem Französischen. Neuausgabe Köln 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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